Sándor Petőfi: Das Land der Liebe

Ein früher Vorläufer des Surrealismus? Ein ungewöhnliches Gedicht aus dem Jahre 1847, in wörtlicher zeilengerechter Übersetzung.

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     Ich träumte dieser Tage…

     Ich weiß nicht mehr, ob wachend oder schlafend?
     Ich weiß nur, dass ich träumte.
     Ah, welch schöner Traum das war!
     Jetzt, wo ich ihn niederschreibe,
     Auch jetzt noch zittert meine Hand… vor Wonne! 
     Schlendernd ging ich langen Wegs,
     Das heißt, nicht schlendernd,
     Eher schnell sogar,
     Denn öde war die Landschaft, wo ich weilte,
     So öde, so prosaisch, 
     Es waren als diese Landschaft nur ihre Bewohner
     Noch prosaischer…
     So leidenschaftslose, ruhige Fratzen!
     Ich eilte weg, ich eilte weg,
     Dass ich umso rascher
     Hinter mir lasse diese
     Ärgerliche Landschaft und ärgerlicheren Gesichter.

     Schließlich gelangte ich an einen hohen Zaun,

     An dessen diamantenem Tor

     Dies aufgeschrieben war mit Regenbogen-Buchstaben:

     „Das Land der Liebe“.

     Sehnsuchtsdurstig
     Ergriff ich die Klinke

     Und öffnete,

     Und was sah ich! ein himmlischer Anblick!
     Vor mir stand die prächtigste Gegend,

     Welche die Maler und die Dichter

     In ihrem künstlerischen Rausch

     Zu schaffen nur in der Lage sind,

     Wie vielleicht nur das Paradies war.

     Ein blühendes breites langes Tal
     Mit tausend Blumen und so großen Rosenbäumen,

     Wie es anderswo die Eichen sind.

     Inmitten spazierte ein Fluß,

     Und zurück und wieder zurück wandte er sich

     Zu dem Ort, den er schon einmal verlassen hat,

     Als täte es ihm weh,

     Sich endgültig von ihm loszureißen.

     Der Saum des Horizonts

     Waren romantische Felsen,

     Auf deren Köpfen

     Goldene Wolken schwebten

     Als wie Locken.

     Erstaunend sah ich diese Gegend,

     Vergessend auch die Türe noch zu schließen,

     Durch die ich eintrat.

     Lange stand ich an der Schwelle,

     Bis endlich beinahe unbewusst mich

     Tiefer und tiefer zog der Zauber der Gegend.

     Fürs erste durch Blumenwiesen

     Ging ich. Junge Menschen

     Schritten um mich herum, jeder

     Mit gesenktem Haupt, als suche er eine Nadel.

     Ich wurde neugierig und fragte,

     Was sie so sorgsam suchen?

     Und es antwortete einer: Giftiges Gras.

     Giftiges Gras? Und warum?

     „Damit ich es auspresse und seinen Saft trinke.“

     Ich war bestürzt und strebte schnell weiter,

     Und müde gelangte ich

     Zum ersten Rosenbaum,

     Und ich setzte mich unter ihn, um dort auszuruhen,

     Aber wie ich mich niedergelassen hatte,

     Oh Grauen! über meinem Kopf

     Ein Jüngling hing erhängt.

     Ich rannte weg zum zweiten Baum

     Und zum dritten und zum vierten

     Und so weiter, immer weiter,

     Aber ich konnte nirgends ausruhen,

     Denn an jedem Baum

     Hing ein Mensch.

     Jenseits des Flusses, jenseits des Flusses!

     Dachte ich, dort ist die glückliche Liebe.

     Und ich lief zum Fluss,

     Saß in einem Boot und ruderte schnell,

     Aber mit geschlossenen Augen,

     Denn in den Wellen immer wieder ein Leichnam

     Emporschoss,

     Und vom Ufer, wie aufgeschreckte Frösche,

     Sprangen hinein Jünglinge und Mädchen.

     Ich gelangte übers Wasser,

     Und ah auch hier überall

     Der alte Anblick!

     Giftbecher, erhängte Menschen,

     Überall das, immer nur das,

     Und hinten von den Felsengraten

     Warfen sich Andere hinunter,

     Und unten an den spitzen Steinen des Tals

     Spritzte aus ihren Herzen das Blut

     Und aus ihren Köpfen das Hirn.

     Verzweifelt preschte ich

     Überallhin, überallhin,

     Doch überall der alte Anblick:

     Verzerrte Gesichter und Selbstmord!…

     Einzig nur die Landschaft und der Himmel lächelten.
 

     Koltó, Oktober 1847

 


Aus: Adorján Kovács,
Sándor Petőfi – „Dichter sein oder nicht sein”: Dichtung und Deutung, Arnshaugk, Neustadt a. d. Orla, 2023, 303 Seiten, ISBN 3-95930-276-2, 34 €.

 

 

 

 



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Gravatar: Adorján Kovács

@ropow 28.06.2024 - 20:07
So habe ich mir das gewünscht – vielen Dank! Wir müssen uns ja nicht gegenseitig überzeugen, sondern weiterbringen.
Den schönen Artikel Margócsys habe ich natürlich im betreffenden Kapitel meines Buchs berücksichtigt. Mit einem gewissen Stolz darf ich sagen, dass Prof. Margócsy mir bei einem zufälligen Treffen (im Bus der Linie 9 in Budapest!) gesagt hat, mein Buch enthalte viele neue, bedenkenswerte Überlegungen. Wie dem auch sei: Ein Gedicht wie „Das Land der Liebe“ werden Sie bei den deutschen Romantikern (und auch sonst) kaum finden. Mir gefällt diese Radikalität sehr gut.
Tennyson ist wunderbar, aber schwer vergleichbar: gleichzeitig älter und jünger, eher ein Viktorianer. Für Polituren dieser Art hatte Petőfi in seinem gehetzten Leben keine Zeit.
Verwirrt? Auch – und vieles mehr. Der Literaturhistoriker Czigány nannte ihn in seiner Oxford History of Hungarian Literature eine “larger-than-life-personality”, und das stimmt wohl.
Wichtig: Im September kommt der letzte Band der kritischen Ausgabe von Petőfis Gedichten heraus. Endlich. Und immer noch fehlt eine kommentierte Leseausgabe seiner Gedichte. Leider.

Gravatar: ropow

@Adorján Kovács 26.06.2024 - 16:50

Nachdem ich mich in Petöfis Leben etwas umgesehen habe, muss ich wohl zugeben, dass meine Interpretation von „Land der Liebe“ wohl doch viel zu schlicht war für seinen widersprüchlichen Charakter (http://ketezer.hu/2013/07/a-szerelem-orszaga/).

Ob allerdings Sie mit Ihrer Psychoanalyse tief genug graben konnten, ist auch nicht so sicher. Es kann gut sein, dass Sie nach weiteren Grabungen irgendwann lediglich auf einen hochgradig verwirrten jungen Mann stoßen, der sich mit großen ruhelos-fiebrigen Augen verzweifelt an seine Regenbogen klammert: Einer für Ruhm, einer für Buchstaben, einer für einen Gürtel, einer für ein Brautkleid…

Wenn da nur nicht diese Dichtkunst wäre, weit jenseits von Regenbogen - und auch noch ganz ohne Wiederholung:

„What wilt thou have me do for thee? Shall I weave The sunbeams to a crown for thy bald brows? Shall I ungarter the Plëiades for thee And twist their glittering periscelides To keep the hose up on thy minishing calves? Shall I unchair Cassiopeia’s brightness and fetch her close-stool for thee? or pluck the Nanny-goat From off the back of that old blade whose haunches Quiver beneath the feathered foot of Perseus? Shall I ungird Orion’s strength, or bring thee A grinder of that mighty snake, whose folds Far stretching through the unconfinèd space Involve seven worlds?“ - Alfred Lord Tennyson, The Devil and the Lady, Act 1, Scene 1 (1823)

PS.: Damit wir uns nicht mißverstehen: Ich habe Dányi Krisztián das Gedicht rezitieren gehört - zum Niederknien.

https://www.youtube.com/watch?v=1rf1ZH1iaUA

Gravatar: Adorján Kovács

@ ropow 26.06.2024 - 13:13
Nun, im „Apostel“ sucht Sylvester wegen des von Ihnen richtig beschriebenen politischen Scheiterns den einsamen Weg des Attentats wie die russischen Anarchisten und Sozialrevolutionäre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da steckt auch Todessehnsucht drin… und in Petőfis eigenem Verhalten im Juli 1849 auch: Er war schon ausgemustert und hätte nicht zu General Bem fahren müssen… Jedenfalls wüsste ich nicht, wie er nach der Niederlage des Freiheitskriegs hätte weiterleben können; er hat sich zu weit aus dem Fenster gelehnt.
Die psychoanalytische Deutung ist keineswegs wacklig: Erstens ist von Jünglingen und Frauen die Rede, also handelt es sich sicherlich nicht um die Liebe zu seinem Land; zweitens ist gerade die Zeit der Flitterwochen (und mit der „überspannten“ Júlia Szendrey erst recht) eine durchaus auch angespannte Zeit, wie ich im entsprechenden Kapitel meines Büchleins breiter ausgeführt habe. –
Ihre Beobachtung, dass Petőfi viele Metaphern wiederholt und sich durch die Variation der Umgebung, in die er oft die gleichen Bilder hineinsetzt, immer neue Wirkungen hervorbringt, ist überaus treffend („Poetik der Wiederholung“). Deshalb ist der Regenbogen, aus dessen Farben die Buchstaben bestehen, aber gerade nicht abgedroschen. Meine LGBTQ-Interpretation ist natürlich anachronistisch, aber Sie verstehen, was ich meine.

Gravatar: ropow

@Adorján Kovács 26.06.2024 - 06:08

Also Opfersehnsucht habe ich bei Petőfi in Az apostol wenig gefunden, eher ein religiöser Glaube an eine revolutionäre Apokalypse, die die ultimative Freiheit bringen würde („Der Mensch hat nicht nur ein Recht darauf, frei zu sein - vor Gott ist es sogar seine Pflicht!“) - und rechthaberische Schuldzuweisungen gerichtet an seine Mitbürger, die ihn und seine Bestrebungen (Nemzeti Dal) nicht zu würdigen wissen - nicht einmal einen Sitz im Parlament als Abgeordneter von Szabadszállás hatte er bekommen - genau so wenig, wie das Volk den freiheitskämpfenden Attentäter Sylvester in Az apostol.

Insofern steht mir die ohnehin auf auf wackeligen Beinchen stehende Interpretation von „Körperlichkeit, Sexualität der Liebe“ bei diesem Gedicht nicht im Wege. Nachdem Petöfi gerade mal ein Jahr zuvor seine große Liebe Júlia Szendrey kennengelernt hatte - warum sollte er ausgerechnet da so etwas Pessimistisches schreiben? Da liegen politisch-weltanschaulich-patriotische Hintergründe einfach näher: Wenn schon Liebe, dann Petöfis Liebe zu seinem - na? - Land.

Ach ja, der Regenbogen. Leider nur ein zu diesem Zeitpunkt längst schon zu Tode gerittenes Lieblingssujet von Petöfi: Winterabend, Zaubertraum, Der Fluch der Liebe, Ich liebe dich…

„Was ist Ruhm? Ein Regenbogenstrahl, ein Sonnenblick, der sich durch Tränen stahl.“ - Sándor Petőfi

Gravatar: Adorján Kovács

@ropow 25.06.2024 - 16:49
Interessante Interpretation. Le Bon hätte ihm in der Tat viel Ärger erspart, hätte er ihn nach Lektüre je angenommen; jedoch war in ihm wohl zu viel Opfersehnsucht, sodass er (siehe den „Apostel“) vielleicht sogar gern „Opfer der Massen“ geworden wäre…
Petőfi hatte sich zwei Ideale gesetzt: Freiheit und Liebe. Sie interpretieren auch dieses Gedicht von der Freiheit her, obwohl mir hier doch die Liebe den Vorrang zu haben scheint. Von daher allerdings ist mir das Gedicht immer noch ein Rätsel. In meinem Buch habe ich eine psychoanalytische Erklärung versucht (das Dunkle, Schreckliche an der Liebe ist ihre Körperlichkeit, die Sexualität), daher auch die mögliche Verbindung zum Surrealismus.
Es gibt auch andere Prophetien: Sie können sich vorstellen, wie ich mit unserer heutigen Erfahrung erschrocken bin, als ich lesen musste, dass für Petőfi die Aufschrift „Land der Liebe“ ausgerechnet in REGENBOGEN-Lettern gesetzt ist…

Gravatar: Adorján Kovács

@ropow 25.06.2024 - 14:24
Sie waren zu schnell.......
Aber Kommentare dieser Güte wünsche ich dem Gedicht!

Gravatar: ropow

Inzwischen ist der Text ja aufgetaucht, diese pessimistische Vision eines Revolutionärs, der überzeugt ist, dass eine Gesellschaft, die seine Vorstellung von Freiheit nicht annimmt, nur Selbstmord begehen möchte.

So ähnlich fühlen heute wohl auch die Anhänger der AfD angesichts des Wahlverhaltens ihrer Mitbürger.

Schade, dass Sándor Petőfi damals noch nicht Gustave Le Bon kennen konnte - das hätte ihm eine Menge Ärger erspart - und Az apostol.

„Nie haben die Massen nach der Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen mißfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.“ - Gustave Le Bon, Psychologie der Massen (Psychologie des foules), 1895

Gravatar: ropow

„Liebe sieht nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen.“ - William Shakespeare

Darum gibt es hier auch nichts zu sehen.

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